[ rede ]

"Macht's gut und Danke für den Fisch!"
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oder doch mehr als nur eine Phase

Rede zum ersten Alumni-Treffen
am Institut für Mathematik
Axel Müller
22. November 2008

Sehr geehrte Professorinnen und Professoren, Studentinnen und Studenten, liebe Alumni und Gäste. Ich freue mich sehr, dass ich heute hier zu Ihnen sprechen darf. Einerseits liegt mir der Fachbereich und die Pflege der Alumni ganz besonders am Herzen und zum anderen ist diese Situation - hier im Raum 711 zu stehen - ein bisschen wie nach Hause zu kommen. Und ich habe mich in diesem Zuhause sehr lange sehr wohl gefühlt.
Ich unterscheide mich in einigen wichtigen mehr oder weniger offensichtlichen Aspekten von meinen Vorrednern. Ich bin deutlich jünger und habe nicht nur deswegen eine ganz andere Position. Was vielleicht am offensichtlichsten ist: Ich trage inzwischen wesentlich seltener Anzüge. Die Zeit in der ich häufiger Anzüge trug ist nicht nur zeitlich, sondern auch in Kilogramm gemessen schon eine Weile her.

Ich habe viele wichtige Dinge in diesem Gebäude gelernt, unter anderem (ich glaube es war Herr Ferebee), dass ich am Anfang eines Vortrages bereits das Ergebnis nennen solle. Damals glaubte ich noch der Erklärung, dass dies den Zuhörern helfen würde, die Struktur des restlichen Vortrages nachzuvollziehen. Nach meinem Studium habe ich dann hauptamtlich Vorträge gehalten und gelernt, dass die Zuhörer im Wesentlichen nur die Inhalte der ersten und der letzten Minuten aufnehmen. Ich werde Sie kurz vor dem Ende meiner Rede wecken!

Im Haupteil meiner Rede werde ich über mich, meinen Weg und meine Erfahrungen berichten. Wenn Sie bedenken, dass ich im Moment als Lehrer arbeite, wird Sie diese dramatische Wendung meines Vortrages nicht überraschen. Wir habe ja alle schon Lehrer kennengelernt, die sehr ausdauernd über sich reden können. Ich habe als Rechtfertigung aber auch zwei Thesen, die ich durch diesen Bericht aus meinem Leben untermauern möchte:

1. Was wir tun ist maßgeblich dadurch bestimmt, wer wir sind.

2. Wer wir sind ist maßgeblich dadurch bestimmt, was wir erlebt haben und wie wir etwas getan haben.


Mit einer Anlehnung bei Douglas Adams könnte ich kurz formulieren: "Alles hängt mit Allem zusammen."

Diese konstruktivistische Sichtweise stößt oft bei Mathematikern auf Widerstand. Sie sehen den Gegenstand ihres Schaffens als universell und nicht persönlich geprägt. Ich möchte hier sehr subjektiv antworten: Mich hat das Studium hier und der damit gelegte Zugang zur Mathematik stark geprägt und so das was ich getan habe - und wie ich Mathematik betrieben habe - deutlich beeinflusst.
Ich werde also darüber berichten, an welchen Stellen die Mathematik in meinem Leben wirkte und damit Hinweise geben, was ich aus meinem Studium gewinnbringend verwenden konnte aber auch wo es Mängel gab. Dies ist eine sehr subjektive und persönliche Darstellung. Ich kenne jedoch nicht wenige Mathematiker, die ganz ähnliche subjektive Erfahrungen gemacht haben.

In einem zweiten Teil meiner Rede, werde ich wesentlich kürzer ausführen, wieso mir die Anbindung der Alumni wichtig ist und welche Ausgestaltung ich mir hier vorstellen kann. Bisher gibt es ja kaum Rückkopplung zwischen Alumni und Fachbereich. Der Titel meiner Rede "Macht's gut und danke für den Fisch" - wieder einmal Douglas Adams - zeigt ja schon, dass es sich eher um eine abgeschlossene Phase handelt, so wie es das Wort "Studien-Abschluss" beschreibt.

Mein Weg zu und mit der Mathematik

Ich habe im Oktober 1990 im Studiengang Informatik mein Studium in Frankfurt am Main begonnen. Schon an Weihnachten war mir jedoch klar, dass ich an diesem Fachbereich nicht bleiben wollte. Zum einen waren mir Kommillitonen die in der Vorlesung den Professor mit Papierfliegern beworfen etwas zu albern, zum anderen hatte ich in den Mathematikvorlesungen von Professor Weidmann und Professor Müller das gefunden, was mich wirklich interessierte. Ich wechselte also nach dem ersten Semester den Studiengang und trug mich kurz danach für das Doppelstudium Mathematik-Diplom und Lehramt an Gymnasien ein. Im Mathematikstudium hatte ich jedoch das wichtige erste Semester nun nicht dafür nutzen können, meinen Platz in einer Lerngruppe zu finden. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar, wie wichtig eine solche Gruppe ist. Ich versuchte also die Übungsaufgaben alleine zu lösen, was mir zwar immer gerade so gelang, ich aber auch als ungemein aufwendig und anstrengend empfand. Im Rückblick denke ich, dass ich hier zwei Tugenden trainiert habe, die in meinem weiteren beruflichen Werdegang sehr wichtig waren: Ausdauer und Frustrationstoleranz.

Nach Zwischenprüfung und Vordiplom sah ich mich dann endlich in der Lage, am Fachbereich entlohnte Arbeit zu verrichten: Ich konnte Tutorien zu den Vorlesungen halten. Ich habe lange als Tutor gearbeitet, insgesamt zehn Semester, und dies hat natürlich meine Studienzeit verlängert. Damals geschah diese Tätigkeit scheinbar primär aus dem Wunsch heraus, Geld für die monatliche Miete und das restliche Leben zu verdienen. Heute weiss ich, dass sie mir die Gelegenheit gab, den Stoff der betreuten Vorlesungen nochmals zu durchdringen. Entscheidend war dabei das Sprechen über die Mathematik, ein Zugang den ich in meiner weiteren Beschäftigung immer mehr in den Mittelpunkt gerückt habe.
Ich denke, alle Mathematikstudenten - zumindest aber alle Lehramtsstudenten - sollten im Rahmen des Studiums einmal ein Tutorium leiten. Hier können sie einerseits proben, ob sie ihr Verständnis von Mathematik verbalisieren können, und andererseits ob es Ihnen liegt vor einer Gruppe mehr oder weniger interessierter Zuhörer mit mathematischen Inhalten zu bestehen. Dies sind Qualifikationen, die sie wahrscheinlich oft in ihrer beruflichen Zukunft brauchen können.

Ich möchte noch zwei andere entlohnte Tätigkeiten erwähnen, denen ich neben meinem Studiums nachging und bei denen ich Wichtiges über die Rolle der Mathematik außerhalb der Hochschule lernte.
1995 verbrachte ich ein viertel Jahr in den USA. Nach meiner Rückkehr stellte ich fest, dass sich meine finanzielle Situation durch den Begriff der Nullmenge gut beschreiben ließ. Ich fand jedoch glücklicherweise schnell einen Job.
Ein Büromaschinenhersteller hatte Geräte an eine deutsche Bank verkauft. Nun stellte sich nach der Auslieferung an die Filialen heraus, dass es Probleme mit diesen Geräten gab. Die Ursache der Probleme war noch unklar. Sollte es ein Konstruktionsfehler sein, so mussten alle ausgelieferten Geräte wieder abgeholt und ins Werk gebracht werden. An dieser Stelle kam ich ins Spiel. Ich saß in der Mainzer Landstraße an einem Bildschirm, an dem eine Nachricht auftauchte, wenn eines der Geräte irgendwo in Deutschland eine Fehlermeldung zeigte. Ich rief dann die Filiale an, ließ mir den Fehler genau beschreiben und erstellte so eine Übersicht über die Ursachen der Fehlermeldungen.
Nach einer Woche war das Ergebnis bereits deutlich. Von den zwanzig möglichen Ursachen lagen in über achtzig Prozent der Fälle die Treffer bei zweien und der Umfang der Stichprobe war groß genug um sagen zu können: "Konstruktionsfehler!". Einige Tage später kamen zwei Manager angereist, um eine Entscheidung zu treffen.
Obwohl ich nur eine studentische Aushilfe war, war ich bei einer Besprechung anwesend. In dieser Besprechung lernte ich etwas Entscheidendes: Die Daten waren klar, die mathematische Wahrheit lag auf dem Tisch. Dennoch entschieden die Manager anders. Sie entschieden nämlich, dass die Daten noch kein klares Bild geben würden und ließen erst einmal zwei ausgelieferte Geräte zurück ins Werk holen. Erst im Nachhinein wurde mir die Gemengelage klar. Die Mathematik lieferte hier sehr starke Argumente für einen Konstruktionsfehler. Es gab aber auch andere Argumente. Dies waren - wie so oft - die Kosten der Entscheidung.
Meine Tätigkeit war an dieser Stelle beendet, auch weil die Vorlesungen wieder begonnen hatten. Ich habe später die entsprechenden Geräte in deutschen Banken funktionierend gesehen. Das Problem wurde wohl gelöst.
Die Mathematik liefert in vielen Situationen Argumente für eine Entscheidung. Sie ist aber nur selten die Instanz die entscheidet. Wir Mathematiker tun also gut daran, die anderen Argumente zu verstehen.

Eine wesentlich befriedigendere Tätigkeit als die gerade beschriebene waren die finanzmathematischen Gespräche mit Juan. Wie kam es dazu?
Ich war schon im Hauptstudium in der Arbeitsgruppe von Professor Wakolbinger angekommen, als dort ein Banker anrief, der einen Studenten suchte der ihm Nachhilfe in Mathematik gab. Das war Juan. Da Juan damals noch kein Deutsch sprach, sollte diese Nachhilfe in Englisch stattfinden. Ich sagte, für einen entsprechenden Stundenlohn würde ich das machen. Juan war bereit, meinen ziemlich unverschämten Preis zu zahlen.
Wie sich schon beim ersten Treffen herausstellte, ging es hier nicht um Schulmathematik. Juan hatte einen Abschluss als Volkswirt und mehrjährige Praxis im Risikomanagement. Er kannte und verwendete finanzmathematische Modelle, doch er wollte die Mathematik dahinter verstehen, um die Modelle bewerten zu können.
Wir trafen uns einmal pro Woche über einen Zeitraum von über zwei Jahren. In dieser Zeit habe ich wesentlich mehr gelernt als Juan, dennoch wurde ich bezahlt. Ich lernte die in der Praxis verwendeten Modelle kennen und vor allem lernte ich, wie man über mathematische Themen mit einem Nichtmathematiker redet. Nun, Juan war sehr aufgeschlossen und machte mir meine Aufgabe leicht. Er wollte schließlich verstehen, was sich in den Modellen verbarg. Dennoch rangen wir lange an elementaren Begriffen und Voraussetzungen. So zum Beispiel auch um die Frage, warum die Nicht-Differenzierbarkeit der Brown'schen Bewegung ein so entscheidendes Kriterium für die Modellierung von Aktienkursen war.
Die Gespräche mit Juan über finanzmathematische Themen zeigten mir Folgendes: Um mathematische Modelle anzuwenden, muss man einiges von der Realsituation verstehen und mit Nichtmathematikern zusammenarbeiten. In dieser Zusammenarbeit muss man eine gemeinsame Sprache finden. Das Erlernen der mathematischen Sprache ist sehr aufwändig. In den allermeisten Fällen ist es leichter für den Mathematiker die wichtigsten Begriffe des Nichtmathematikers zu erlernen. Eine gegenseitige Annäherung ist aber zwingend notwendig, die Welt richtet sich nicht nach der Mathematik.

Nun, ich sollte auch etwas über die Veranstaltungen am Fachbereich sagen, und welchen Nutzen ich aus ihnen gezogen habe.
Mein Studium war zunächst im Grundstudium auf eine gewisse Breite hin angelegt. Dies hat sich im Nachhinein als günstig erwiesen, denn ich brauchte an einigen Stellen meines Berufslebens mathematische Kenntnisse, die ich dort zunächst gar nicht erwartet hätte. Ich komme gleich in einem Beispiel darauf zurück.
Im Hauptstudium verschlug es mich dann zu den Stochastikern, zur Arbeitsgruppe von Herrn Wakolbinger. Hier habe ich eine ganze Reihe von Veranstaltungen besucht und so nach und nach auch hier ein Grundwissen erlangt. Ich habe mir damals Zeit genommen, mich mit einigen Dingen lange zu beschäftigen. So habe ich zum Beispiel die Vorlesung "Höhere Stochastik" dreimal gehört und jedesmal mehr verstanden. Vielleicht mag das heute zu Zeiten von Bachelor und Master ein verschwenderischer Luxus sein.Ich habe in meiner Zeit nach dem Studium jedoch mehrfach davon profitiert, dass ich wirklich verstanden hatte, was die Brown'sche Bewegung oder den Itô-Kalkül ausmachen.
Einen besonderen Nutzen hatte ich vom Besuch einer Vorlesung zu dem ich gezwungen wurde. Herr Wakolbinger machte unmissverständlich klar, dass zu einer Diplom-Prüfung bei ihm zwingend eine Prüfung über Statistik gehöre.
Eigentlich hatte ich auf dieses Thema gar keine Lust. Mir war das ganze Vorgehen in der Statistik suspekt, die Aussagen unverständlich. Nun, ich habe mich dem sanften Druck gebeugt. Und das war gut so.
Nach dem Studium habe ich wahrscheinlich häufiger statistische Ideen und Vorgehensweisen verwendet als Konzepte aus irgendeinem anderen Bereich der Mathematik. Daran kommt man als Mathematiker meines Erachtens nicht vorbei, und man sollte hier ein gutes Fundament mitbringen.

Irgendwann war dann der Zeitpunkt in meinem Studium angekommen, um eine Diplomarbeit zu schreiben. Aus einem Seminarvortrag ließ sich ein Thema destillieren, Herr Wakolbinger hatte einen interessanten Preprint, ich war im Geschäft.
Ich habe insgesamt knapp zwei Jahre gebraucht, bis meine Diplomarbeit im Copyshop war. Zwei Jahre in denen ich sehr intensiv an einem Thema gearbeitet habe.
Das war auf jeden Fall zu lang. Zumindest 1999 war dies aber durchaus üblich bei Mathematikern. Hier passten Anspruch und praktischer Nutzen nicht zueinander. Für einen Studenten der keine Promotion plant ist eine Beschäftigung von zwei Jahren mit einem so speziellen Thema nicht sinnvoll. Sehr wahrscheinlich wird er aus diesen zwei Jahren nicht genügend Nutzen für sein weiteres Leben ziehen, um diese lange Zeit zu rechtfertigen.

Mein Studium war nach der Diplomprüfung noch nicht beendet, da ich ja noch das erste Staatsexamen für Lehramt an Gymnasien nachlegen wollte. Mein zweites Fach Physik hatte ich lange vernachlässigt und auch in den Erziehungswissenschaften musste ich mich erst wieder orientieren. Das Staatsexamen habe ich dann im Herbst 2000, knapp ein Jahr nach dem Diplom abgelegt.

In der Zeit zwischen Diplom und Examen war ich das erste Mal als Diplom-Mathematiker berufstätig. Alles begann in der Kneipe "Shooters" in der Nähe des Frankfurter Doms.
Das Shooters ist eine recht enge Kneipe, die man eigentlich nur besucht, wenn man ohnehin in der Nähe des Römers ist. So war es auch bei mir und einigen Freunden im Dezember 1999. Wir mussten uns einen Tisch mit einer größeren Gruppe teilen, irgendwann kamen wir ins Gespräch. Bei unseren Tischnachbarn handelte es sich um Banker aus einer Frankfurter Bank, allesamt aus der Abteilung "Performance und Risiko-Controlling". Da witterte ich Morgenluft.
Morgenluft, weil meine finanzielle Situation nach der Diplomprüfung und den knapp zwei Jahren ohne festes Einkommen wieder einmal in einer epsilon-Umgebung der Null lag.
Ich fragte, ob sie nicht einen Job für mich hätten, bekam zunächst eine Visitenkarte, dann einen Vorstellungstermin und schließlich einen Vertrag als studentische Aushilfe - aus steuerlicher Sicht ein schöner Status. Die fünfwöchige Arbeit in der Bank änderte meine Pläne für die Zukunft nachhaltig. Hatte ich zunächst noch geplant, direkt nach dem Staatsexamen ins Referendariat zu gehen, wollte ich nun erst einmal als Mathematiker im Bereich Finanzmathematik arbeiten.
Woran habe ich dort gearbeitet? Ich untersuchte, wie man Lücken in Zeitreihen schließen kann. Die Zeitreihen waren Wertpapierkurse, die Lücken entstehen zum Beispiel, weil einige Wertpapiere an einigen Tagen (zum Beispiel dem dritten Oktober oder dem vierten Juli) nicht gehandelt werden. Diese Lücken wollte die Bank schließen, in der Hoffnung durch die größere Datengrundlage eine bessere Risikobewertung zu erhalten.
Es gibt einen bekannten Algorithmus für dieses Problem, der Expectation-Maximization-Algorithmus, kurz EM-Algorithmus. Um diesen Algorithmus zu verstehen, braucht man Wissen aus der Statistik. Damals habe ich Herrn Wakolbinger zum ersten Mal im Stillen gedankt. Bei der Implementierung kam mir dann an entscheidender Stelle Wissen über Permutations-Matrizen zu Hilfe. Stoff aus der "Linearen Algebra II" bei Prof. Müller.
Welche Konvergenzbedingungen bei dem Algorithmus zu Betrachten sind, dazu hatte ich einmal etwas in der Vorlesung "Numerik" im dritten Semester gehört.
Die Arbeit bei der Bank hat mir zum einen gezeigt, dass ich mit meinem breiten Grundwissen für einige Anforderungen gut aufgestellt war. Vor allem hat sie mir aber gezeigt, welche wichtige Rolle Teamfähigkeit für das Bestehen im Beruf spielt. Dies ist aber leider keine Fähigkeit die in meinem Studium systematisch gefördert wurde. Eher im Gegenteil…

Nach der Examensprüfung kam nun die erste Bewerbung auf eine feste Stelle. Bei der Bank aus meinem Praktikum gab es keine freien Stellen, da die Bank gerade von einem großen internationalen Konzern geschluckt worden war und sich umstrukturierte.
Ich fuhr zum Absolventen-Kongress nach Köln, gab sechs Bewerbungsmappen ab, bekam sechs Einladungen zu Vorstellungsgesprächen und hatte nach kurzer Zeit fünf Angebote für eine Anstellung. Ich weiss nicht, ob das an der damaligen Zeit lag oder daran, dass ich durch die Gespräche mit Juan und das Projekt zum EM-Algorithmus ungewöhnliche Qualifikationen hatte.
Entschieden habe ich letztendlich nicht nach der Größe des Unternehmens oder dem Gehalt, sondern nach dem Bauch. Und das in doppeltem Sinne. Ich unterschrieb bei SimCorp, dem einzigen Arbeitgeber, der sich für mich sichtbar sogar um das leibliche Wohl seiner Mitarbeiter kümmerte. Dies ist ein Querverweis auf den Beginn meiner Rede und die dort erwähnten Kilos.

SimCorp ist ein dänisches Software-Unternehmen, das neben dem Stammhaus in Kopenhagen mittlerweile Niederlassungen in verschiedenen europäischen Ländern, den USA, Asien und Australien hat. Das Unternehmen ist älter als Microsoft und hat sich auf Software für die Finanzbranche spezialisiert. Mittlerweile wird nur noch ein Produkt vertrieben, eine Standardsoftware für Wertpapiermanagement, die in Banken, Versicherungen und Kapitalanlagegesellschaften eingesetzt wird. SimCorp ist ein Unternehmen, in dem dem das Management verstanden hat, dass sein Kapital im Wissen und Engagement der Mitarbeiter liegt. Folgerichtig zog die Firma im Jahr 2008 in die Top 100 der besten deutschen Arbeitgeber ein - sie belegte Platz 25.
Eine Maßnahme zur Pflege der Mitarbeiter ist das "Bier um vier", das sich in allen Niederlassungen etabliert hat. Jeden Freitag treffen sich Kollegen zu einem informellen Treffen bei dem auch mal ein Bier oder ein alkoholfreies Getränk eingenommen wird. In Bad Homburg, wo ich arbeitete, gibt es eine Mitarbeiter-Lounge mit Zapfanlage und Tresen. Bei diesen Treffen geht es jedoch primär nicht um Alkohol, sondern darum, Kontakt zwischen den Kollegen zu halten, die während der Woche auf Projekten im In- und Ausland sind. Das "Bier um vier" ist eine sehr effektive Art Wissen zu verteilen. Regelmäßig habe ich dort innerhalb von Minuten Fragen klären können, die ich alleine gar nicht oder nur mit wesentlich größerem Zeitaufwand beantwortet hätte. Solche informellen Treffen sind meines Erachtens ein sehr effizientes Mittel zum Austausch.
Ich war knapp drei Jahre bei SimCorp, und habe in dieser Zeit in allen Abteilungen außer der Küche und der Buchhaltung gearbeitet. Ich wurde auf Projekten in Banken und Versicherungen eingesetzt und habe Schulungen im In- und Ausland gehalten. In diesen drei Jahren habe ich sehr viel über die Finanzbranche gelernt. Und in all diesen Einsätzen habe ich gesehen, dass Mathematik eine Rolle spielt. Wie oben schon angedeutet, sind mathematische Überlegungen meist jedoch nur ein Aspekt, oft gibt es andere, die ausschlaggebend sind.
Ein Beispiel: Im Rahmen eines Projektes bei einer Bank habe ich an der Abbildung von festverzinslichen Wertpapieren in der SimCorp-Software mitgearbeitet. Ich traf mich mit zwei Rentenhändlern, um zu besprechen, wie die Papiere bewertet werden sollten. Für die Bewertung von einfachen Anleihen gibt es ein sehr naheliegendes Standardmodell, den Barwertansatz. Um sicher zu gehen, dass wir über das Gleiche sprachen, hatte ich in einer kurzen Präsentation erläutert, wie dieses Modell arbeitet. Die beiden Händler stimmten dieser Bewertung zu und so parametrisierte ich anschließend die Software.
Ein paar Tage später wurde ich zu einem dringenden Termin mit der Projektleitung der Bank einbestellt. Dort schlug man mir meine Bewertung um die Ohren. Die berechneten Preise stimmten überhaupt nicht mit einem Kontrollsystem überein und waren daher für die Bank un-rauchbar. Was war geschehen?
Ich war davon ausgegangen, dass den beiden Rentenhändlern das mathematische Modell schon lange bekannt war - es ist wirklich sehr straight forward - und hatte nicht lange genug mit Ihnen geredet. Die beiden Herren hat Jahrzente Erfahrung im Rentenhandel, sie verwendeten aber viel einfachere (und mathematisch gesehen schlechtere) Modelle zur Bewertung. Und nicht nur sie verwendeten diese Modelle, sondern der Markt verwendete sie! Meine mathematische Modellierung war zwar wesentlich ausgefeilter, aber darum ging es nicht.
Zum Glück konnte die SimCorp-Software auch die gewünschte Bewertung leisten…

Auch einen weiteren wichtigen Punkt lernte ich bei SimCorp: Mut zur Lücke. Aus dem Studium war ich gewohnt, den Dingen auf den Grund zu gehen, mich so lange mit Ihnen zu beschäftigen, bis ich das Gefühl hatte, sie wirklich verstanden zu haben. Das hat für mich lange den Reiz an der Mathematik ausgemacht. Ein solches Vorgehen lässt sich in einem Unternehmen nicht immer umsetzen. Hier gibt es einerseits terminliche Randbedingungen und andereseits wirtschaftliche Konsequenzen. Wenn ich zur Lösung eines Problems so lange brauche, dass mein Arbeitgeber die Lösung nicht mehr zu einem angemessenen Preis verkaufen kann, ist meine Arbeitsweise nicht sinnvoll. Meine Chefin hat es einmal so gesagt: "Axel, du bist nicht mehr an der Uni. Wir brauchen die Lösung bis morgen Mittag, auch wenn du nur achtzig Prozent des Möglichen geschafft hast."
In solchen Fällen musste ich einen schwierigen Spagat zwischen Richtigkeit der Arbeit und zeitlichem Aufwand machen, etwas das ich in meinem Studium überhaupt nicht gelernt hatte.
Ich habe SimCorp nach drei Jahren verlassen und ich trauere der Firma immer noch regelmäßig nach. Es war aber eine lange überlegte Entscheidung und sie war zum damaligen Zeitpunkt richtig.
Schließlich war ja nicht nur Diplom-Mathematiker sondern auch noch angehender Gymnasiallehrer. Mir fehlte aber noch das zweite Staatsexamen. Ob ich nach dem Examen an der Schule bleiben würde, wusste ich damals noch nicht.

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Nach dem Examen bin ich nicht wieder zurück zu SimCorp gegangen und habe auch den anderen Unternehmen getrotzt, die um mich warben. Ich bin an der Schule geblieben und dies war wieder einmal auch eine emotionale Entscheidung. Ich bin an der Schule geblieben, aus Liebe zur Mathematik und aus Liebe zu meinen Schülern.
Es gibt außerhalb der Hochschule wenige Tätigkeiten für einen Mathematiker bei der er so viel Mathematik betreibt wie als Lehrer. Unter diesem Aspekt wird das Zwei-Klassen-Denken das zwischen echten Mathematik-Studenten und Lehramts-Studenten unterscheidet sehr fraglich. Bei SimCorp lag der mathematische Inhalt meiner Tätigkeit vielleicht bei 5%. An der Schule sind es sicher 25%. Hinzu kommt, dass ich die Arbeit mit jungen Menschen als ungemein inspirierend empfinde. Es gibt kaum eine Mathematikstunde in der ich nicht auch etwas von meinen Schülern über Mathematik lerne - über ihre Mathematik - sie sehen hier wieder meine konstruktivistische Sichtweise auf das mathematische Handeln.
Hat mich das Studium gut auf die Arbeit als Lehrer vorbereitet? Ja und Nein. Ich habe ein solides Gerüst mitgebracht und das braucht man zwingend jeden Tag. Herr Dinges hat es einmal so formuliert: "Man braucht einen Eimer an Wissen, um einen Fingerhut auszuschenken." Das trifft den Nagel auf den Kopf. Mein Eimer ist zwar nicht randvoll, aber doch oft ausreichend gefüllt.
Was mir leider im Studium ganz entgangen ist, ist die historische Entwicklung der Mathematik, die Bedingungen unter den Begriffe und Verfahren entwickelt wurden. Dieses Wissen wünsche ich mir oft, um meinen Schülern zu zeigen, dass Mathematik etwas Lebendiges ist.
Das wichtigste für den Beruf des Lehrers, das Unterrichten, kann die Universität meines Erachtens nach kaum vermitteln. Unterrichten ist ein Handwerk und man braucht zum Erlernen dieses Handwerk die Werkstatt, die Schule, und das Material, die Schüler
Ich unterrichte sehr gerne und ich bin auch gerne bereit neue Dinge auszuprobieren, meinen Unterricht zu verändern. Das war eine der Voraussetzungen dafür, dass ich seit einem Jahr auch als Fortbildner für Mathematiklehrer arbeite. Ich betreue mit einem Kollegen - er war während meiner Arbeit als Tutor in meinem Tutorium - sechs Schulen in Frankfurt, die ihren Mathematikunterricht verändern wollen. An diesen Schulen habe ich viele frühere Kommillitonen getroffen und genügend viele brennen immer noch für das, worum es uns geht, sie brennen für die Mathematik.

Die Rolle der Alumni

Ich hatte Ihnen am Anfang versprochen, dass ich Sie gegen Ende meiner Rede wecken würde. Jetzt ist es soweit. Schauen Sie doch bitte mal gerade nach Ihren Sitznachbarn, ist er oder sie wach, geht es ihm gut? Ja? Dann kommt nun der Teil, bei dem sie wieder zuhören sollten. Was verbindet mich mit den Alumni, wieso spreche gerade ich zu Ihnen. Welche Erwartungen und Möglichkeiten sehe ich für die Anbindung?

In einem gewissen Sinne habe ich mit der Anbindung der Alumni begonnen. Dieser Tatsache verdanke ich es, heute hier sein zu dürfen. Zwischen Diplom und Staatsexamen arbeitete ich in einer Gruppe um Prof. Baumeister an der Neugestaltung der Fachbereichs-Homepage. Ich bemerkte, dass die Alumni nirgends angesprochen wurden. Da ich am Fachbereich niemand fand, der sich verantwortlich fühlte ergriff ich die Initiative.
Ich mietete eine Domain, setzte eine kleine Internetseite auf und gab den Alumni die Möglichkeit sich im Gästebuch einzutragen. Meine Ziele waren, dass sich die Alumni untereinander nicht aus dem Blick verlieren sollten und auch der Kontakt zum Fachbereich bestehen bleiben sollte. Ich habe dieses Ziel im Wesentlichen nicht erreicht. Mir fehlte neben dem Beruf die Zeit, das Forum dauerhaft zu betreuen. Umso erfreuter war ich dann, als ich erfuhr, dass der Fachbereich sich nun selbst um seine Alumni kümmern will. Mit Herrn Wakolbinger hat man hier schon den Richtigen gefunden.

Warum braucht der Fachbereich eine Alumni-Initiative? Wie ich in meinem Vortrag ausgeführt habe, ist das Studium mehr als eine Phase. Wir erlernen im Studium einen Zugang zur Mathematik, der uns auch nach dem Studium begleitet. Es heißt sicher nicht: "Macht's gut und danke für den Fisch!". Es gab jedoch bisher kein Forum um dem Fachbereich Rückmeldung über die Sinnhaftigkeit des Studiums zu geben. Dies können die Alumni tun.
Braucht der Fachbereich denn diese Rückmeldung? Traditionell bildet die Universität den eigenen akademischen Nachwuchs aus. Dies ist für den Aufbau des Studiums entscheidend. Mir scheint jedoch, dass heute nur noch wenige Mathematiker an der Hochschule bleiben. Sollte sich die Universität nicht dann auch anschauen, was der Großteil ihrer Absolventen nach dem Studium macht?
Der Kontakt zu den Alumni kann aber auch eine inhaltliche Bereicherung für den Fachbereich sein.Viele von uns betreiben ja Mathematik, jedoch unter anderen Nebenbedingungen. Es bleibt aber Mathematik und sicher kann es hier ein gegenseitiges befruchtendes Miteinander geben. In den finanzmathematischen Kolloquien wurde dies ja schon umgesetzt.
Auch für die Alumni bietet der engere Kontakt attraktive Möglichkeiten. Wir lieben ja alle die Mathematik und hier am Fachbereich wird spannende Mathematik betrieben. Davon möchten wir etwas mitbekommen.
Und vielleicht gibt es unter den Studenten sogar den einen oder anderen zukünftigen Kollegen oder Mitarbeiter, den man kennen lernen könnte…

Wie könnte die Ausgestaltung der Initiative aussehen? Nun, dieser Termin heute ist schon ein wichtiger Baustein. Wir bleiben am überschaubaren Fachbereich, es gibt Raum für die Alumni zu berichten und heute Nachmittag gibt es interessante Vorträge über Mathematik. Perfekt! Einen solchen Tag würde ich mir jedes Jahr wünschen, vielleicht immer am gleichen Wochenende, das macht das Ganze planbar.
Darüber hinaus finden am Fachbereich regelmäßig interessante Vorträge statt. Laden Sie die Alumni dazu ein und sorgen Sie dafür, dass es rund um den Vortrag einen informellen Teil gibt (vielleicht "Tee um sechs" statt "Bier um vier"). Bei der Wahl der Vorträge, zu denen Sie einladen, sollten Sie daran denken, dass wir nicht mehr so in der Materie stecken, also auf zu spezielle Themen verzichten.
Ebenso stelle ich es mir als sehr sinnvoll vor, für interessierte Studenten eine Vermittlung von Praktika in den Unternehmen der Alumni anzubieten. Dies kann für beide Seiten gewinnbringend sein und dem Fachbereich Information über das Leben nach dem Studium zukommen lassen.

Ich freue mich darauf, bald wieder öfter in meinem alten Zuhause zu sein…

Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Aufmerksamkeit.


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